MEIER ÜBER MEIER
„ Wir hatten eine Fotografie von der Grossmutter aufgehängt, auf dem Bild sah man, dass sie einen Kropf hatte – das interessierte mich als Kind. Mein Vater erzählte davon und auch, dass sie einen Unfall mit einer Kuh hatte und später an Krebs gestorben ist.
Aber was sie für eine Bedeutung für ihre Kinder hatte, oder ob sie eine liebevolle Mutter war, das weiss ich nicht“.
„Ich erinnere mich an die Sonntage, als wir ins „Löchli hochgefahren sind und der Grossvater in seinen Turnschuhen – er trug oft Turnschuhe – und in seinen grauen Sonntagshosen vor dem Haus auf uns wartete. Er sah witzig aus in den Turnschuhen und der Sonntagskleidung.“
„Ich erinnere mich, dass sie schwarze, dunkle Haare hatte, plötzlich waren sie dann grau. Mit offenen Haaren habe ich die Mutter nie gesehen.“
„Die Mutter dörrte immer Orangenschalen. Im Winter legten wir die Orangenrinde auf die Glut, dann duftete es wunderbar nach Orangen.“
„Manchmal ging s’Muätti mit dem Fahrrad ins Dorf runter. Sonntags besuchte sie oft die Frühmesse um sechs Uhr, denn sie war eine sehr gläubige Frau.“
„Mutter war immer für ihre Familie da. Ich kann mich an kein Gespräch mit ihr alleine erinnern.
Und sie arbeitete und arbeitete bis spät nachts. Ich weiss, dass wir immer zur Mutter gehen konnten, obwohl sie Tag und Nacht arbeitete. Sie hatte weder Zeit für uns, noch zum Rumsitzen. Immer, wenn sie sich ausruhte, setzte sie sich auf den Ofen.“
„Gerne sass sie zwar beim Ofen, aber nur selten ruhte sie sich dann aus.“
„Regelmässig sah ich auch, dass Mutter weinte.“
Im Projekt Meier über Meier sammle ich auf den Spuren meiner Herkunft Bilder der Grossfamilie Meier. Das Archiv vergessener Zeiten ist Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie auch Anlass, in die Gegenwart einzutauchen. Fotografierte Reliquien ergänze ich mit Interviews, die ich mit meinen Verwandten führte. Welche Erinnerungen haben die 31 Cousinen an jenen Ursprungsort? Und welche Bilder sind meinen Tanten und Onkel geblieben?
Diese Frau gebar fünfzehn Kinder. Mit 47 Jahren starb sie an Brustkrebs. Das jüngste Kind war gerade mal zwei Jahre alt. Sie hiess Berta Meier-Häfliger und lebte mit ihrer Familie auf dem Hof Lochguet, „Löchli“ genannt. Beigesetzt wurde sie im Juli 1959 auf dem Friedhof in Werthenstein, einem kleinen Dorf im Kanton Luzern, das beinahe zum Entlebuch gehört. Sie ist meine mir unbekannte Grossmutter und Teil meiner Identität.
Steil führt der Weg vom Schulhaus in Werthenstein den Hang hinauf, vorbei am Haus des Lehrers, hinein in den Wald und weiter über üppige Wiesenlandschaft – der ehemalige Schulweg der Meierkinder ist heute lieblich, einst war er lang. In der Ferne bellt ein Hund, die Gegenwart markierend. Er hindert die Gehenden – Vater und Tochter – daran, in Erinnerungen einzutauchen.
Am Ursprungsort der Grossfamilie Meier, auf dem Hof Lochguet, herrscht Stille. Verlassen sind Bienenhaus und Stall – einzig ein paar Hühner scharren im Garten. Doch birgt das kleine Gehöf und seine Umgebung einzigartige Trouvaillen vergessener Jahre. Erinnerungsbilder entstehen und es scheint, als ob die Grossfamilie Meier im neuen Kontext der Gegenwart erblüht: Grossmutters Wasserkrug, den sie stets für den Arzt bereitstellt, Grossvaters Handorgel, auf der er sonntags gerne spielte, und der Holzschlitten, mit dem acht Kinder talwärts sausten.
„Ich erinnere mich, dass sie offene Beine hatte und viele Schmerzen ertragen musste.
Mutters Beine waren oft bandagiert.“
„Ich weiss genau, dass sie sich während dem Heuen mit dem Rechen verletzte, sie blutete stark.“
„Im Stall hatte die Mutter einen Unfall mit einem Gusti, deshalb wurde sie auch krank.
Am Schluss ist die Mutter an Brustkrebs gestorben, aber eigentlich hatte sie einen Unfall mit einem Gusti.“
„Wir hatten ja kein Auto und die Mutter hat deshalb einfach selber gfuschtet. Sie wartete bis alles total vereitert war.“
„Ich glaube, dass die Mutter auch noch den roten Lauf bekam, das ist ein Infekt. Es wucherte und wucherte bis sie Brustkrebs hatte.“
„Sie hatte grosse Schmerzen.“
„Von den Geburten haben wir kaum etwas mitgekriegt. Am Morgen war einfach wieder ein Kind mehr da.
Die Hebammen sind zu uns nachhause gekommen, Frau Leberer und Frau Rohrer aus Malters.“
„Der Krug, die Schale mit Wasser und die Seife standen immer bereit.“
„Jedes Mal wenn die Mutter ein Kind gebar, kam die Nachbarstochter etwa eine Woche zu uns und schaute zur Mutter und uns.
Ich glaube, bei der Geburt von Marie, Roman und Walter war die Mutter im Spital, davor gebar sie uns Kinder zuhause.
Sie musste einige Schicksale ertragen, wie beispielsweise die schwierige Geburt von Marie.
Die Mutter schonte sich nach einer Geburt nie und arbeitete sofort wieder.
Ich habe nie gesehen, dass Mutter das Neugeborene stillte, das war sehr privat.“
„Ich erinnere mich gerne an den Vater. Aber persönliche Gespräche hatte ich nie mit ihm. Er war ein Familienmensch und doch kein redseliger Typ.
Aber wenn er etwas sagte, hatte es Händ und Füäss.“
„Er war mehr der Gemütliche, Stille und Ruhige. So habe ich ihn erlebt. Vater war ein loyaler, zufriedener Mensch und kän Ufmüpfigä.“
„Das schönste war jeweils, wenn er auf dem Schwyzerörgeli spielte. Zum Spielen sass er in der Küche meistens auf der Eckbank.
Manchmal setzte sich der Vater auch zu uns, wenn wir nachts noch Freunde mit nachhause nahmen.“
„Er war ein Mann der siner Läbtig viel arbeitete.“
„Vater war streng, aber nicht böse, und er arbeitete immer
Hut ab, was er dort oben alles schaffte.“
„Manchmal arbeitete er auch zusätzlich für die Gemeinde und säuberte die Strassen.
Vater hatte nie Zeit für uns und war bereits frühmorgens für die Strassenarbeit unterwegs.“
„Ich arbeitete gerne mit dem Vater, er war kein holziger Mensch.“
„Ich erinnere mich vor allem an die gemeinsamen Arbeitstage, im Stall oder beim Holzen. Mein Vater sagte mir manchmal: „Roman, komm, wir gehen ein Kalb kaufen.“
„Er war gerne im Wald und verdiente das meiste Geld damit.“
„Vater war ein sehr liebenswürdiger und gutmütiger Mensch, der sicher keiner Fliege was tat.“
„Manchmal zog der Vater die Holzschuhe aus, wenn wir nicht parierten – damit er uns barfuss nachspringen konnte.“
„Vater versuchte, die vielen Kinder zu erziehen und brauchte auch mal den Lederriemen oder den Teppichklopfer.“
„Auch Vater starb alleine im Spital. Seine Leber versagte.“
„Und er machte den besten Honig, das weiss ich noch. So guten Honig wie den vom Grossvater habe ich nie mehr gegessen. Erinnerst du dich auch?“
Und wer weiss, vielleicht sind die ähnlichen Füsse, die einzige Gemeinsamkeit der Grossfamilie Meier.